Meine Wurzeln

„Und du bist Bayerin?“, fragte mich R., die ich vor mehr als 20 Jahren in Lissabon kennen, lieben und ertragen lernte – in einem heißen, langen und goldgelben Sommer – sichtlich genervt. Seither scheuen wir keine Strapazen mehr. „Bayerin nicht“, antwortete ich gelassen, obwohl mir das Blut in den Adern pochte, weil… Nun, ich muss nicht alles erzählen.

Wir hatten gerade das legendäre Konzert von Barbara Clear in der Olympia-Halle besucht und waren auf der Heimfahrt. An einem Tag von Marburg nach München, am nächsten zurück. In einem Bus mit einer Reisegesellschaft, die uns viel von der ohnehin spärlichen Zeit raubte. „Was dann?“, fragte R. provokant. „Jedenfalls keine Hessin.“ Denn schließlich bin ich dort nur geboren. Meine Wurzeln liegen woanders. „Sag schon, was dann?“ Ich überlegte kurz. Zum einen, weil ich selber den Worten noch nachspürte, die meine Herkunft beschreiben konnten. Zum anderen, weil R. jedes unbedachte, unabgesicherte Wort gnadenlos zerpflückt. „Ich bin ein Vertriebenen- und Emigrantenkind, mit böhmisch-bayerischem Substrat.“ Bei R. kann ich solche Begriffe ungestraft verwenden. Sie hat wie ich Sprachen und Literatur studiert.

Und genauso ist es. Meine Mama Resi wanderte in den frühen 50er Jahren von Bayern nach Hessen aus, um meinen Papa Toni zu heiraten, der 1946 seine Heimat, das Sudetenland, hatte verlassen müssen. Wenn Sie sich die bayerische Lebenskultur vor Augen rufen, werden Sie begreifen, dass Resi Welten hinter sich ließ. In diesen Zeiten wechselten viele Menschen ihren Lebensraum – aus Not, aus freien und aus unfreien Stücken. Und häufig bestand ihr Gepäck aus nicht mehr als einem Bündel von Habseligkeiten. Resi importierte ihre oberpfälzische Lebensart und ihren bayerischen Humor und infizierte damit die ganze Familie. Außerdem brachte sie eine Wäschekommode mit, die noch heute in meinem Besitz ist. Und natürlich ihre unvergleichlichen Semmelknödel, Krautwickerl, Sauren Lüngerl, Finger- und Dampfnudeln. Das in Ei gebackene Hirn vom Schwein, von Toni geschlachtet, machte ihm nie jemand streitig. „Entweder gehe ich als Nonne ins Kloster oder ich setze ein halbes Dutzend Kinder in die Welt“, sagte sich Resi bereits im Kindesalter. Zu meinem Glück verwirklichte sie exakt Lebensplan Nummer Zwei. Denn ich bin das Nesthäkchen, ihr sechstes Kind. Aber so war sie. Eigensinnig setzte sie alles um, woran sie glaubte. Schließlich war es ja nur zum Besten Aller. Sich selber stellte sie immer zurück. Oder am Ende doch nicht? Resi ist Christin und lebte konsequent die Nächstenliebe. Sie bleibt Christin, auch nach ihrem Tod. Ich habe meine Mutter nicht ins ewige Präteritum geschickt, als sie starb, sondern sie im Präsens belassen. Im Präsens des ewigen Lebens, wenn Sie so wollen. Ihr Eigensinn war und ist nicht zu brechen – weder vom Leben noch vom Tod.