In Zeiten, in denen die einen alles zu wissen beanspruchen, auf der Basis brüchiger Statistiken, und die anderen buchstäblich alles in Zweifel ziehen, mit der Aura des religiösen Fundamentalismus, geraten Entscheidungen zum Russischen Roulette. Meine Strategie hieß somit Abwarten.

Als Diabetikerin im Alter von 60 Plus würde ich irgendwann ein telefonisches Impfangebot gegen Covid 19 aus meiner Praxis erhalten. Wenn ich bis dahin kein klares Meinungsbild mit einem eindeutigen Ja oder Nein gewonnen hätte, würde ich spontan entscheiden. Zwei Bedingungen jedenfalls müssten erfüllt sein: 1) Impfung durch meinen Hausarzt und 2) kein Astra Zeneca, vorzugsweise Biontech.

Als der Anruf schließlich kam, konnte ich freien Herzens weder zustimmen, noch ablehnen. Ruhig und gelassen, innerlich nahezu gleichgültig, als ginge mich dies alles nichts an, nannte ich meine Bedingungen. Und tatsächlich wurden sie angenommen. Was nun? Ja oder Nein, Für oder Wider, Handeln oder Stillstehen? Schließlich nannte die Praxisangestellte den Termin. Die erste Impfung lag auf Lothars Geburtstag. Mein Herz tat einen Sprung und hielt das Datum für ein gutes Omen. Und so willigte mein Verstand ein.

Schlamassel werden nicht selten durch besondere Umstände oder Zufälle abgemildert. Mein Hausarzt hatte die glorreiche Idee, die Impfung im Kino durchzuführen. Mein letzter Besuch im Cineplex lag Monate zurück. Statt einer im Stress brodelnden Arztpraxis erwartete mich also ein Kinobesuch im schummrigen Licht. Freilich konnte ich den Film nicht frei wählen. Das Programm war festgelegt, ohne Wenn und Aber.

Mal eben durch die Eingangstür schlendern und ein Ticket bzw. den Impfpass vorlegen, so einfach gestaltet sich heute nichts mehr. Stattdessen gilt es, mit allen Sinnen komplexe Vorschriften zu beachten. Schilder mit Verhaltensanweisungen studieren, Absperrungen beachten, Pfeilen folgen, Desinfektionsstationen anlaufen und alle Verantwortung per Unterschrift übernehmen, damit andere sie nicht mehr tragen müssen.

Nachdem ich den vorgegebenen Pfad nahezu fehlerfrei durchschritten hatte (anarchische Widerstandslust und gesunder Menschenverstand lassen sich nunmal nicht gänzlich ausschalten oder gar einfrieren), lief es unvermittelt an, ohne jegliche Reklame oder Vorfilm, das ganz große Kino.

Arzt, Arzthelferin, Patienten eingetaucht in rotes warmes Licht und so entspannt, als stünden sie unter … nun, Drogen braucht es in so einer Umgebung vermutlich gar nicht, um gelöst und locker die Arbeit zu verrichten. Eigentlich sind dazu nur humane, anregende Rahmenbedingungen erforderlich. Was die Frage aufwirft, warum wir nicht endlich all die eiskalten klinischen Gebäude mit ihrer seelisch abtötenden Atmosphäre gegen Kino- oder Konzertsäle eintauschen, zum Besten aller, Genundheitspersonal wie Patienten.

Statt stundenlanger Wartezeit, wie bei Arztbesuchen üblich, wird mir umgehend ein Separée zugewiesen. „Impfen 5“ leuchtet es mir sachlich entgegen. Händisch, einfach, praktisch.

Auf dem Tisch liegt ein grasgrüner Papierstreifen, auf dem ein großes B notiert ist, was mich für einen kurzen Moment anrührt. Bis ich begreife, dass es nicht für Brigitte steht, sondern für Biontech. So individuell geht es nun doch nicht zu.

Ich nehme Platz und die Zeit gerät in Fluss. In dem großen angenehmen Raum schwingen alle in ihr mit, lassen sich in ihr treiben, statt von ihr getrieben zu werden. Alles läuft im wahrsten Sinne des Wortes wie geschmiert. Ein Piks in den rechten Oberarm, so professionell von meinem Hausarzt gesetzt, dass nicht einmal der Hauch eines Schmerzes auftritt.

Und dann die große Enttäuschung. Ich soll schon gehen, in den unteren Reihen 15 Minuten verweilen. Sofern keine allergische Reaktion auftritt, möge ich das Kino anschließend wieder verlassen. Das macht mir Kummer. Ein kribbelndes Kino-Feeling breitet sich in mir aus. Hätte man uns nicht wenigstens einen Film spendieren können, einen richtigen, der sich mit dem auseinandersetzt, was uns alle angeht und ausmacht? Liebe, Leben, Tod. Wieso soll ich schon wieder verschwinden? Hier lässt es sich gut sitzen und sinnieren.

Zur Not hätte ich auch einen spannenden Roman im Rucksack, frisch aus Schweden eingetroffen, meine Neuentdeckung in der literarisch hochwertigen Krimiwelt des Landes. Im Mittelpunkt steht Leo Junker, vom Dienst suspendierter Polizist, der sich nicht nur mit der kriminellen Unterwelt herumschlägt, zu der sein einziger Freund zählt, sondern mehr noch mit den korrupten Auswüchsen der Säpo, Abkürzung für Säkerhetspolisen, des schwedischen Geheimdienstes. Vom richtigen Leben also handelt es, dieses Buch, das uns Verbrechen vor Augen führt, die in unserer Gesellschaft von offiziellen Institutionen verborgen, verschleiert und verdunkelt werden, damit Kriminelle in höchsten Positionen unter größter Wertschätzung ungehindert ihre schmutzigen Spiele treiben können.

Doch die Welt der Schilder und Pfeile dringt gnadenlos in den Kinosaal ein. Aus die Maus, hier geht’s raus. Zack …

… zack …

Halb geimpft …

… und halb erkrankt geht es zurück in den ganz normalen Alltag, oder besser gesagt in den alltäglichen Irrsinn, an den wir uns mittlerweile alle gewöhnt haben. In der Nacht nach der Impfung entwickle ich Symptome, die mir nur teilweise angekündigt worden waren, wie Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Schlaflosigkeit.

Aber KEINE Schmerzen im Arm, wie von den meisten berichtet. Stattdessen bei mir einige Zugaben wie Schwitzen, leichte Diarrhoe und etwas, das ich Herzauffälligkeit nennen möchte und so interpretiere, dass mein Herz verdammt nochmal so angestrengt wird, mit diesem Impfstoff fertig zu werden, dass es sich einfach melden muss. Wenn ich versuche, ein Wort der Beschreibung zu finden, drängt sich mir die Vokabel „widerlich“ auf. Etwas bremst mich aus, es stellt sich in den Weg und will mich nicht vorbeilassen. Tiefe Sorge bereitet mir dies wiederum nicht, weil ich mein Herz bestens kenne und gut einschätzen kann, was es wann aus welchen Gründen durchmacht.

Nun ist es also amtlich. Der erste Stempel im Impfpass, der mir in wenigen Wochen mehr Grundrechte verleihen soll als den Ungeimpften. Befinden wir uns eigentlich allesamt in einem Science Fiction, der sich nicht auf der Leinwand, sondern im Hier und Jetzt und Überall abspielt? Oder ist uns allen das Hirn gerissen? Grundrechte teilen entweder alle unter- und miteinander oder alle lassen sie gefälligst ruhen. Vielleicht sollte man mal Leo Junker auf diese Sache ansetzen.

Apropos Kino. Wie steht es eigentlich mit dem Happy End? Nun, einstweilen halte ich mich an Lothars asiatische Katze, die unerschütterlich das Glück herbeiwinkt, während Albert Einstein uns allen kontinuierlich den Vogel zeigt. Womit beide den Zustand dieser Zeit perfekt zusammenfassen. Fiasko, hoffentlich mit Bauch-, statt mit Bruchlandung …